Island hat gewählt, aber welche Regierung?

Islands rechtsliberale Regierung hat die Wählergunst klar verspielt. Die vorgezogene Parlamentswahl am gestrigen 29. Oktober führt stattdessen zu neuer Dynamik und bringt viele frische Köpfe ins Althing (Alþingi). Unüberhörbare Rufe nach Veränderungen ertönen. Dennoch ist überraschend offen, wie eine neue Regierung aussehen könnte. Wer am ehesten eine mehrheitsfähige Koalition schmieden kann und damit Premierminister*in wird, bleibt folglich abzuwarten. Die nächsten Tage werden sicher sehr spannend.

Regierung abgewählt – neue noch nicht in Sicht

Erwartungsgemäß ist die regierende Koalition aus »Sjálfstæðisflokkurinn« (»Unabhängigkeitspartei«) und »Framsóknarflokkurinn« (»Fortschrittspartei«) abgestraft und abgewählt worden. Sie kommt nur noch auf 29 der 63 Mandate. Premierminister Sigurður Ingi Jóhannsson (F) reichte umgehend seinen Rücktritt ein, verbleibt mit seinem Kabinett aber bis zur Bildung einer Nachfolgeregierung geschäftsführend im Amt.

Eine neue Regierungsmehrheit ist hingegen noch nicht in Sicht. Denn dem oppositionellen Vier-Parteien-Bündnis, bestehend aus »Vinstrihreyfingin – grænt framboð« (»Links-grüne Bewegung«) »Píratar« (»Piratenpartei«), »Björt framtíð« (»Strahlende Zukunft«) und »Samfylkingin« (»Sozialdemokratische Allianz«), ist es nicht gelungen, ihre seit knapp drei Jahren ausgewiesene Umfragemehrheit[1] in eine reale Stimmenmehrheit zu verwandeln. Dabei schien es lange Zeit ausgemacht, dass die vier Parteien die für die Bildung einer Regierung notwendige Mehrheit von 32 Sitzen erreichen würden[2]. Folglich präsentierten sie sich in den letzten Tagen als Regierungsalternative und sondierten auf Anregung der »Piraten« eine mögliche Zusammenarbeit in einer gemeinsamen Regierung. Damit wollten sie – ein Novum für Island – bereits vor dem Urnengang Klarheit über die Koalitionsfrage schaffen[3]. Mit 27 Mandaten haben sie das Ziel der Regierungsübernahme aber klar verfehlt.

Wahlergebnisse in der Einzelauswertung[4]

Regierungsparteien

Unerwartet legte die »Unabhängigkeitspartei« auf den letzten Metern stark zu. Sie verbesserte sich auf 29 % und 21 Sitze, liegt allerdings noch weit von ihrer einstigen Stärke vor dem Finanzcrash entfernt. Die agrarisch-liberale »Fortschrittspartei« erlebte wie prognostiziert erdrutschartige Verluste. Bei 11,5 % der Stimmen verlor sie fast 60 % ihrer Abgeordneten und behält nur noch acht Sitze.[5]

Oppositionsparteien

Erstmals zweitstärkste Partei wird die »Links-Grüne Bewegung«, die sich nach ihrem Absturz 2013 wieder erholen konnte. Die Ökosozialist*innen gewannen 15,9 % der Stimmen und damit zehn Sitze.

Lagen die »Piraten« in den Umfragen Anfang des Jahres noch bei uneinholbar erscheinenden 38 % und erregten damit große internationale Aufmerksamkeit, so sackten sie ab April stetig ab, stabilisierten sich in den letzten Wochen aber bei etwa 20 %. Am Wahltag reichte es dann nur noch für 14,5 % (zehn Sitze). Vor dem skizzierten Umfragehintergrund mag das erstaunlich niedrig wirken. Weil das aber immerhin eine Verdreifachung des letzten Wahlergebnisses darstellt, bleibt der Jubel unter den »Piraten« verständlicherweise groß.

Obwohl »Piraten« (+7) und »Links-Grüne« (+3) Sitze hinzugewannen, konnten sie die Sitzverluste der anderen beiden Wunschpartner nur minimal kompensieren. Deswegen verpasste das Oppositionsbündnis die Regierungsmehrheit. Maßgeblichen Anteil daran hatte das schwache Abschneiden der »Allianz«. Mit einem Ergebnis knapp über der Fünfprozenthürde (5,7 %) fuhr sie das historisch schlechteste Wahlergebnis für eine nordeuropäische sozialdemokratische Partei ein. Damit verlor die »Allianz« zwei Drittel – also weitere sechs – ihrer 2013 auf nur noch neun Abgeordnete geschrumpften Fraktion. Vor vier Jahren stellte sie noch die Ministerpräsidentin. Die Partei »Strahlende Zukunft« verlor zwei Abgeordnete und hat fortan vier Sitze.

Neue Partei

Zwischen beide Gruppierungen schiebt sich die erst im Mai gegründete liberale Zentrumspartei »Viðreisn« (»Reform« bzw. »Erneuerung«)[6]. Sie zieht aus dem Stand mit sieben Abgeordneten bei 10,5 % ins Althing ein. Das entspricht ungefähr ihren Umfragewerten.

Island, quo vadis?

Wohin gehst Du, Island? Welche Parteien werden den Inselstaat zukünftig regieren? Bleiben die bisherigen Oppositionsparteien bei ihrer Ankündigung, keiner der Regierungsparteien zu einer Mehrheit verhelfen zu wollen? Wie entscheidet sich die »Reformpartei«, die bisher auf Distanz zu beiden Seiten ging, weltanschaulich aber eher regierungsnah sein dürfte? Belastbare Antworten auf diese Fragen sind noch nicht abzusehen. Fakt ist hingegen, dass eine Regierung die Stimmen von mindestens drei Parteien benötigen wird. Und im Rahmen der schwierigen Parteienkonstellation könnte der Neueinsteiger durchaus das Zünglein an der Waage zugunsten einer politischen Seite spielen.

Eine hohe Verantwortung lastet deshalb auf Präsident Guðni Jóhannesson, schließlich muss er eine Partei mit der Regierungsbildung beauftragen. Bjarni Benediktsson von der »Unabhängigkeitspartei«, der traditionellen Regierungspartei der Vergangenheit, reklamiert dieses präsidentielle Mandat selbstverständlich für sich. Sein Konkurrent von der »Reformpartei«, Benedikt Jóhannesson, allerdings auch. Dieser macht das an drei Umständen fest: am höchsten Stimmengewinn für eine Partei, am Wählerwunsch nach Veränderung und an seiner Positionierung im politischen Zentrum, wo auch immer das liegen mag.[7] Trotz dieser vermeintlichen Logik schwingt da ein gehöriger Hauch von Größenwahn mit, wenn die fünftstärkste Partei den Chefposten in einer Mehrparteienregierung für sich beansprucht. Sicherlich werden Katrín Jakobsdóttir von der »Links-Grünen Bewegung« und die »Piraten«-Crew ebenfalls ein gehöriges Wörtchen mitsprechen wollen. Sie sind schließlich die anderen großen Wahlgewinner.

Zwei Mal zwei Optionen

Prinzipiell sehe ich zwei mögliche Regierungstypen, die sich ergeben könnten. Entweder kommt es zu einer »minimalen Gewinnkoalition«[8] oder zu einer Minderheitsregierung. Am wahrscheinlichsten halte ich eine Mitte-Rechts-Regierung, angeführt von Bjarni Benediktsson, andernfalls eine Mitte-Links-Regierung, angeführt von Katrín Jakobsdóttir. Vielleicht ergibt sich aber auch eine ganz andere, eine neuartige Konstellation.[9]

Die bisherigen Regierungsparteien könnten zwar mit einem weiteren Partner koalieren, doch wahrscheinlich ließe sich das in der Praxis nicht umsetzen. Neben den »Piraten« schloss beispielsweise auch die »Reformpartei« diese Option schon vor der Wahl aus. Im Falle der sozialistischen »Links-Grünen« müssten zum Teil starke programmatische und ideologische Differenzen überwunden werden. Es wäre aber theoretisch weiterhin ein Kabinett mit dezidiert konservativ-liberalem Kurs denkbar, sollten »Unabhängigkeitspartei«, »Reformpartei« und »Strahlende Zukunft« zueinander finden. Mit zusammen 32 Sitzen wäre es die knappste Mehrheitskoalition und sicher nicht spannungsfrei.

Ohne die »Unabhängigkeitspartei« würde eine Mehrheit auf fünf Parteien angewiesen sein. Ein Bündnis der bisherigen Oppositionsparteien mit der »Reformpartei« kommt zusammen auf komfortable 34 Sitze. Arithmetisch ist auch eine links-grüne Minderheitsregierung, toleriert von der »Fortschrittspartei«, denkbar. Aber ob sich der historische Präzedenzfall wiederholt, dürfte zweifelhaft sein. Denn nach dem Regierungssturz 2009 galt die Tolerierung nur als kurze Überbrückung bis zur Neuwahl.

Wir blicken demzufolge auf schwierige und womöglich langwierige Verhandlungen.

 

Endnoten

[1] Für eine grafische Übersicht aller Umfragen des viel zitierten Meinungsforschungsinstitutes mmr seit 2009 vgl. mmr (2016): Fylgi flokka og ríkisstjórnar. [onl. im Int.] Reykjavík: mmr [Abruf: 30.10.2016].

[2] Die letzten Umfragen vom Freitag vor der Wahl deuteten jedoch auf einen sehr engen Wahlausgang hin. Vgl. Polls predict a close race in tomorrow’s elections (2016). [onl. im Int.] In: Iceland Monitor, 28.10.2016 [Abruf: 30.10.2016].

[3] Vgl. Paul Fontaine (2016): Opposition Parties Close To Alliance. [onl. im Int.] In: The Reykjavík Grapevine, 27.10.2016 [Abruf: 30.10.2016].

[4] Alle Wahlergebnisse können grafisch gut aufbereitet auf der entsprechenden Webseite des »Iceland Monitor« [Abruf: 30.10.2016] nachvollzogen werden. Alle gewählten Abgeordneten der einzelnen Wahlkreise listet der staatliche Rundfunk auf, Brynjólfur Þór Guðmundsson (2016): Þessi taka sæti á þingi. [onl. im Int.] In: RÚV, 30.10.2016 [Abruf: 30.10.2016].

[5] Gemeinsam haben sie eine Sperrminorität, um Verfassungsänderungen und damit entsprechende Referenden bis Ende April 2017 weiterhin zu blockieren. Vgl. dazu das »Stjórnarskipunarlög«, Gesetz Nr. 91 v. 05.07.2013, über die vorübergehenden Bestimmungen zur Änderung der Verfassung. [onl. im Int.] Reykjavík: Alþingi [Abruf: 30.10.2016].

[6] Es gibt dafür verschiedene Übersetzungsmöglichkeiten. Die Wunschübersetzung seitens der Partei wird wohl »Reform« sein, weil dieser Begriff vom Magazin »Iceland Review« aktuell bevorzugt wird. Dessen Herausgeber ist nämlich niemand anderes als Benedikt Jóhannesson, der Mitbegründer und Vorsitzende von »Viðreisn«.

[7] Vgl. Vala Hafstað (2016): Leaders Disagree who Should Form Government. [onl. im Int.] In: Iceland Review, 30.10.2016 [Abruf: 30.10.2016].

[8] Der politikwissenschaftliche Fachbegriff beschreibt eine Koalition, bei der keine Koalitionspartei für die eigene parlamentarische Mehrheit entbehrlich ist.

[9] Vgl. dazu auch Paul Fontaine (2016): Elections 2016. What will Iceland’s Next Government Be? [onl. im Int.] In: The Reykjavík Grapevine, 31.10.2016 [Abruf: 31.10.2016].

Stand: 31.10.2016

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