Neuwahl in Island am 29. Oktober

Der Termin für die Neuwahl steht fest. Am 29. Oktober wählen die Isländer*innen vorzeitig ihr neues Parlament. Die amtierende Regierung dürfte abgewählt werden. Umfragen zufolge könnte ein links-grünes Viererbündnis übernehmen. Ausgemacht ist das allerdings noch lange nicht.

»Offshore Leaks« bewirken vorgezogene Neuwahl

Ginge alles mit rechten Dingen zu, hätten die Wahlen erst in einem halben Jahr stattgefunden und zwar Ende April 2017. Doch bei den politischen und wirtschaftlichen Eliten Islands geht es eben nicht mit rechten Dingen zu. »Offshore Leaks« und »Panama Papers«, Korruption, Unaufrichtigkeit und Arroganz der Mächtigen sind dabei nur einige negativ konnotierte Schlagworte, welche die allgemeine Unzufriedenheit mit der politischen Klasse und der politisch-wirtschaftlichen Situation nach dem spektakulären Zusammenbruch des Bankensystems vor acht Jahren noch verstärken.[1]

Denn während die Eliten ihr Geld »offshore« in Sicherheit gebracht und teilweise sogar noch Entschädigungen für Spekulationsverluste gefordert hatten, musste die Allgemeinheit die Zeche für den Bankencrash (»hrunið«) zahlen. Die Enthüllungen über zwielichtige Briefkastenfirmen von Spitzenpolitiker*innen ließ daher den Volkszorn erneut hochkochen. So strömten die Menschen mit ihrem Kochgeschirr im Frühjahr dieses Jahres wieder in Scharen auf die Straßen. Es sollen die größten Massenproteste in der jüngeren isländischen Geschichte gewesen sein, noch vor der »Kochtopf-Revolution« (»búsáhaldabyltingin«) 2008/09. Schon damals stürzten die aufgebrachten Massen ihre Regierung. Sämtlichen Umfragen zufolge wird das diesmal erneut der Fall sein. Denn die regierende Mitte-Rechts-Koalition aus »Unabhängigkeitspartei« (»Sjálfstæðisflokkurinn«) und »Fortschrittspartei« (»Framsóknarflokkurinn«)[2] wird höchstwahrscheinlich derart drastische Stimmverluste erleben, dass sie damit ihre bisher komfortable Mehrheit verlieren dürfte.

Die protestierenden Bürger*innen konnten den Politiker*innen zwar die Zusage für eine vorzeitige Parlamentsauflösung abtrotzen. Allerdings gelang es der angeschlagenen Regierung noch, die Protestbewegung und die siegesgewissen Oppositionsparteien bei der Forderung nach sofortigen Neuwahlen auszumanövrieren. Sie überstand ein zu diesem Zwecke von der Opposition angestrengtes Misstrauensvotum und schob Neuwahlen um über ein halbes Jahr auf. Sie gab dabei vor, noch viele, teilweise noch gar nicht begonnene, Gesetzesvorhaben zu Ende bringen zu wollen. Manch einer zweifelte mit Blick auf die Historie gebrochener Abstimmungsversprechungen der regierenden Koalition gar daran, dass überhaupt vorzeitig gewählt würde.[3]

Nun hat Präsident Guðni Th. Jóhannesson ein entsprechendes Neuwahldekret auf Wunsch von Regierung und Parlament am 20. September ausgefertigt[4]. Demzufolge wird am 29. Oktober gewählt.

Regierung verlor Vertrauen schon lange vorher

Wenngleich die Enthüllungen über Offshore-Firmen 2015/16 die politische Szenerie ordentlich aufwirbelten und das ohnehin sehr geringe Vertrauen der Bevölkerung in die Koalitionsspitzen weiter erodieren ließ, darf darüber nicht der langfristige historische Trend übersehen werden. Denn schon wenige Monate nach ihrer Wahl lagen beide Koalitionsparteien in den Umfragen weit von einer eigenen Mehrheit entfernt[5]. Und dabei ist es seitdem bis heute stets geblieben. Die Ursachen dafür sind vielfältig: zunehmende Ungleichheit trotz boomender Wirtschaft, Gerechtigkeits- und Glaubwürdigkeitsprobleme, schleppende strafrechtliche Aufarbeitung des Crashs, Wohnungsmarktprobleme, Währungsprobleme, gebrochene Versprechen in punkto Verfassungsreform und Referendum über EU-Verhandlungen etc.

Doch zurück zur Statistik. Obgleich auch die »Unabhängigkeitspartei« in den Umfragen strauchelte, steuerte die »Fortschrittspartei« eindeutig den größten prozentualen Anteil bei. So rapide diese Bauernpartei vor dem Wahltag 2013 auf ein einmaliges Beliebtheitshoch geklettert war, so schnell stürzten ihre Werte danach wieder ab. Fortan oszillierte sie wieder um ihre üblichen Umfragewerte. Bisweilen unterbot sie diese sogar noch deutlich und rutschte in den einstelligen Bereich ab. Mittlerweile werden ihr, bezogen auf das letzte Wahlergebnis, Stimmverluste von rund 60 % prognostiziert. Um von den tiefer liegenden Ursachen eines sich schon seit Jahren abzeichnenden Wahldesasters abzulenken, könnte die Parteiführung in der medialen Öffentlichkeit auf eine altbewährte bequemere Methode zurückgreifen und die Schuld bei karibischen Briefkastendokumenten und einzelnen Sündenböcken verorten.

Derweil sitzt der konservative Finanz- und Wirtschaftsminister Bjarni Benediktsson, der zu den reichsten Familien Islands gehört und ebenfalls auf einer fernen Insel eine Briefkastenfirma zur Sicherung und Vermehrung seines Vermögens nutzte, die Proteste erstaunlich erfolgreich aus. Er denkt nicht an persönliche Konsequenzen und könnte mit der »Unabhängigkeitspartei« womöglich auf niedrigerem Niveau wieder einmal mit den meisten Stimmen ins Ziel kommen.

Was kommt nach der Abwahl der Regierung?

Werden die Isländer*innen an den Wahlurnen für das nächste internationale Novum sorgen? Laut Umfragen könnte eine bunte links-liberale Parteienkoalition unter Führung der Piratenpartei (»Píratar«) ab November in die Staatskanzlei einziehen. In klarer Abgrenzung zur bisherigen Tradition streben die isländischen »Piraten« bereits vor dem Wahltag erste Sondierungen über eine zukünftige Koalition unter Ausschluss der jetzigen, als abgewirtschaftet abgestempelten Regierungsparteien an. Davon versprechen sie sich mehr Transparenz und Glaubwürdigkeit. Die Wähler*innen sollen wissen, welche Koalition sie nach der Wahl erwartet und was mögliche Kernkompromisse sind. Keine Partei soll sich mehr so einfach herausreden können. Auf der Prioritätenliste der auf einem klaren Anti-Establishment-Kurs segelnden »Piraten« stehen eine Verfassungsreform mit mehr Basisdemokratie, eine gerechtere Verteilung der Profite aus Fischfang und anderen Naturressourcen, ein kostenfreies Gesundheitswesen, Korruptionsbekämpfung und Wiederaufbau des Vertrauens in das politische System. Kurz vor der Wahl, so die artikulierte Hoffnung, möchten die »Piraten« eine Art Übereinkunft präsentieren können.[6]

Doch werden sie am Ende wirklich die Nase vorn haben? Wird es für das bisherige Oppositionslager reichen? Das bleibt abzuwarten, denn Umfrageergebnisse sind gerade in Island nur Momentaufnahmen mit beschränkter Aussagekraft. Die aufgewühlten Gemüter aus dem Frühjahr sind wieder etwas beruhigt; die Wähler*innen z. T. wieder unsicher geworden. Zudem wächst die Wirtschaft; die Arbeitslosigkeit ist sehr niedrig. Innerhalb von zwei Wochen kann sich daher noch Einiges verschieben, das haben schon die diesjährigen Präsidentschaftswahlen gezeigt. Das gilt umso mehr, wenn man einen kurzen Blick auf die Parteientwicklungen des vergangenen halben Jahres wirft.

Obwohl die »Piraten« über ein Jahr lang die Umfragen haushoch anführten und der Frust mit den Machthabenden durch die Panama-Enthüllungen eher wuchs als abnahm, sacken sie seitdem wieder ab. Ihre Tendenz zeigt klar nach unten. Währenddessen trat außerdem die neu gegründete »Reformpartei« (»Viðreisn«) auf den Plan. Sie kann viel enttäuschtes Wählerpotenzial im liberalen, europafreundlichen Spektrum des politischen Zentrums auf sich vereinen. Demgegenüber konsolidierten sich die Konservativen auf einem Niveau unterhalb ihres letzten Wahlergebnisses – und führen damit die Umfragen wieder an. Trotz aller Skandale, trotz aller Korruptionsvorwürfe, trotz aller Massenproteste und Rücktrittsforderungen an die Adresse der Regierung. Das ist eine dieser Ironien in der jüngeren isländischen Geschichte. Jetzt erweist es sich als sehr hilfreich für die eigene Stimmenoptimierung, dass die Regierungsmehrheit im April unmittelbare Neuwahlen verhindern konnte. Die Zeit und die Vergesslichkeit der Menschen spielen offenbar für sie.

 

Endnoten

[1] Vgl. hierzu auch meine Ausführungen und Belegangaben in Teil 2 meiner Analyse der isländischen Präsidentschaftswahl.

[2] Es ist übrigens dieselbe Koalition, welche in ihrer 12-jährigen Amtszeit vor 2007 mit ihrer marktradikalen Privatisierungspolitik und Entfesselung der Finanzmärkte maßgeblich die Grundlagen für die spätere Finanzsystemkrise gelegt hatte.

[3] Vgl. Alëx Elliott (2016): 77 Bills on Government Priorities List. [onl. im Int.] In: Iceland Review Online, 28.04.2016 [Abruf: 20.10.2016].

[4] Vgl. »Forsetabréf um þingrof og almennar kosningar til Alþingis«, Nr. 97/2016, v. 20.09.2016, [onl. im Int.] [Abruf: 20.10.2016].

[5] Vgl. dazu die grafischen Übersichten aller Umfragen des Meinungsforschungsinstitutes mmr seit 2013, mmr (2016): Fylgi flokka og ríkisstjórnar. [onl. im Int.] Reykjavík: mmr [Abruf: 20.10.2016].

[6] Vgl. Vala Hafstað (2016): Pirates Want to Discuss Government Contract. [onl. im Int.] In: Iceland Review, 17.10.2016 [Abruf: 20.10.2016].

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